Der Mummelsee. Exposé für ein Naturheiligtum

Buchprojekt, 2007

Ein im Rahmen des Mummelsee-Stipendiums entstandenes Künstlerbuch mit Texten und Bildern (Fotografie, Zeichnung und Malerei). Es umkreist den Mummelsee im Schwarzwald, einen Ort mit einer langen mythologischen Vorgeschichte, dem transformatorische Kräfte zugeschrieben werden.

Einleitungskapitel

2004 erhielt ich das Mummelsee-Stipendium, das KünstlerInnen aller Fachrichtungen Gelegenheit zum Aufenthalt am Mummelsee gibt, dem wohl sagenumwobensten, auf 1032 m Höhe gelegenen Ort des Schwarzwalds. Ziel des Stipendiums ist, »die Symbiose von Natur und Kunst und die mit ihr verblassten Schwarzwaldmythen in neuer Weise anzuregen«. Die Literatur, die zum Mummelsee bereits verfasst wurde, prüfte ich auf ihren heutigen Gehalt. Eine eigene Anschauung gewann ich durch meditative Einfühlung, die mir hinter der sichtbaren Oberfläche des Seegeländes eine den alten Beschreibungen ähnelnde Welt eröffnete. Die gesammelten Materialien verdichteten sich zu einem Buchprojekt.

Es fügt fotografische und gezeichnete Bilder mit Texten zusammen, die ich in der inneren Schau empfing und als Botschaften einer geistigen Dimension jenseits naturwissenschaftlicher Gesetze verstand. Sie enthalten Hinweise auf die am See vorhandenen metaphysischen Wirkkräfte und ihre praktische Nutzung zu Zwecken der Heilung und der Erkenntnis. Teils bestätigen die erhaltenen Auskünfte die in Grimmelshausens Roman des »Simplizius Simplizissimus« (1668) zu findenden Ausführungen zum Mummelsee, teils erinnern sie an Jahrtausende alte Lehren, die von den mystischen Schulen der Weltreligionen hervorgebracht wurden.

Die Qualitäten des Mummelsees eignen sich zur exemplarischen Auseinandersetzung mit dem Geistigen in der Kunst. Dem Künstler wächst eine schöpfende und vermittelnde Rolle zu, die an die Wurzeln der Kunst und des Künstlertums anknüpft und schamanische, seherische und heilende Funktionen einschließt. Die Kommunikation mit dem geistigen Wesen des Sees findet auf interaktiver und intuitiver Basis statt, beispielsweise mit dem Genius loci als einer konkret ansprechbaren Instanz. Die künstlerische Arbeit berücksichtigt die unsichtbaren, doch fühlbaren Gegebenheiten vor Ort. Sie ist nicht austauschbar, wenngleich die Vorgehensweise auf andere Orte und Situationen übertragbar ist. Die Arbeit entfaltet und erfüllt sich im öffentlichen Raum der Natur unter Einbeziehung performativer und mentaler Gestaltungsformen. Dazu gehören rituelle Handlungen sowie meditative und imaginative Praktiken.

Die Wirkung des Werks steigert sich mit der liebevollen Zuwendung des Publikums. Dessen partizipatorische Hingabe fügt dem angestoßenen geistigen Entwicklungsprozess weitere Dynamik hinzu und gestattet das Trainieren besonderer Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten. Polaritäten erscheinen nicht mehr als konträr, sondern erweisen sich als komplementär und überwindlich. Die zunehmend feinere Wahrnehmung der Stimme des eigenen Herzens erschließt dem Publikum die Überwindung der neuzeitlichen Trennung von Subjekt und Objekt. Das resultierende ganzheitliche Erleben erleichtert dem Einzelnen das Erkennen individuell stimmiger Optionen der Sinnfindung. Diese Erfahrungen lenken den Blick auch auf den existenziellen und transzendenten Kern der Kunst und ihrer Rezeption.

Inwieweit der religiöse Bezug die mit diesem Projekt befassten Menschen verändert, inwieweit das um die Mummelsee-Thematik kreisende Werk dadurch aufgewertet, bewahrt und tradiert wird, oder ob es sich – im Gegenteil – in der Begriffslosigkeit des Numinosen und in der Anonymität auflöst, bleibt abzuwarten. Alle Menschen, die sich von den zu entdeckenden Angeboten angezogen fühlen und durch ihre Mitwirkung an der Weiterentwicklung des Konzepts beteiligen, sind willkommen. Ihre Zuwendung wird dazu beitragen, den alten »Kultstatus« des Mummelsees zu erneuern und den See als zeitgenössische Attraktion zu bekräftigen.

Reinigungsmittel, Prototyp für ein Mummelsee-Souvenir, 2006, Kunststoff
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